LIQUID THOUGHTS, 2019 // STEPHAN DILL
Lassen wir uns nichts vormachen: Stephan Dills Malerei ist weder harmlos noch dekorativ.
Was uns in seinen jüngsten Papierarbeiten auf den ersten Blick als Leichtigkeit
entgegentreten kann – als spielerische, lebhafte oder farbenfrohe Geste – offenbart sich
kurz darauf als ästhetischer Hinterhalt. Spätestens, wenn die ersten Störmomente in der
Bildbetrachtung einsetzen, wenn die Blickbewegung ins Straucheln gerät und die
oszillatorischen Mechanismen unserer Wahrnehmung sich offenbaren, müssen wir uns auf
die Suche nach anderen Kriterien zur Erschließung seiner Arbeiten begeben.
Kontextualisiert mit seinen großformatigen Ölmalereien des letzten Jahrzehnts, finden wir
Hinweise. Immer wieder praktiziert Dill eine Archäologie des eigenen Malprozesses. Was
sich uns Betrachtenden im fertigen Bild als schlüssiges Momentum präsentiert, ist immer
Resultat einer anhaltenden und geduldsamen Auseinandersetzung mit der Temporalität
seiner Malerei: ein Schichten und Abarbeiten, ein Auf- und Abtragen, ein Antrocknen,
Abschleifen, Übermalen, ein Freigeben und Rückerobern. Das Bild selbst, als materieller
Gegenstand, verdankt sich nicht zuletzt ebendiesen zeitlichen Produktionsprozessen.
Auch in den ‚Liquid Thoughts‘ erzwingt Stephan Dill, dass die Zeit sich auf vielfältige
Weise in seine Bilder einschreibt und dort lesbare Spuren hinterlässt. Die Bilder entfalten
ihre Wirkmacht, indem sie zu temporal verflüssigten Wahrnehmungs- und Denkräumen
werden. Sie spielen mit der Gegebenheit, dass unser Sehen wie auch unser Denken
selbst temporalen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Keinen Moment lang steht uns diese
Malerei vollständig vor Augen, sondern tritt erst nach und nach in Erscheinung: auch wir
müssen, wie der Maler, Zeit investieren. Unsere Augen vollziehen zwischen kurzweiligen
Fixationen permanent Suchbewegungen. Sie heften unsere Aufmerksamkeit an
Pinselstriche, Farbtropfen, -reste, -flächen und sammeln nach und nach Sinnesdaten, um
sich ein Bild zu machen – ein Bild aus Leerstellen, blinden Flecken und Aussprengungen,
aus Clustern, die aufbrechen und sich im Raum verteilen, aus stehengebliebenen Rändern
kraftvoller Pinselstriche und Auswaschungen.
Stephan Dills Malerei verstrickt uns in die Betrachtung. Sie lädt dazu ein, zwischen Nahund
Fernsicht zu changieren; sie konfrontiert mit ästhetischen Widersprüchen, die sich
nicht auflösen, sondern sich nur zeitlich austragen lassen.
Ken Yamamoto, Berlin 2019